Ivo Andrićs Der verdammte Hof – Enzyklopädie existenziellen Leidens

Autor/innen

  • Gabriella Schubert Friedrich-Schiller-Universität Jena

Abstract

Ausgangspunkt des Narrativs dieses Romans bildet die historische Überlieferung des tragischen Schicksals von Dschem-Sultan, dem Sohn von Sultan Mehmed II. dem Eroberer, der Ende des 15. Jahrhunderts vom Thron gestürzt und vermutlich auf Veranlassung seines Bruders Bajezid ermordet wurde. Andrić fasste im Jahre 1928 den Plan, diese Begebenheit künstlerisch zu gestalten; erst 1954 wurde sie jedoch unter dem Titel Prokleta avlija [dt. Der verdammte Hof] publiziert. In dem Beitrag wird den Ursachen für diese lange Entstehungsgeschichte nachgegangen; dabei werden auch Verbindungen des Romans zur Biografie von Andrić thematisiert.
Enzyklopädischen Elementen des Romans widmet sich der darauf folgende Abschnitt. Diese werden in der Schilderung der Zustände im Gefängnis sowie in der Gestaltung von zwei Narrativen zum Ausdruck gebracht: das erste betrifft die Geschichte von Dschem, das zweite den Aufenthalt und die Erlebnisse des Franziskanerbruders Petar im Gefängnis von Istanbul (Carigrad) im 18. Jahrhundert. Andrić ver­knüpft diese Narrative über das Schicksal von Djamil, dessen Tragik letztlich darauf beruht, dass er sich für Prinz Dschem hält.
Das Leid, in Verbindung mit enzyklopädischen Wissensbeständen über Gegebenheiten des Osmanischen Reiches, ist das zentrale Thema des Romans. Es offenbart sich in verschiedenen Konstellationen: 1. Der verdammte Hof ist ein Hof des Leidens, ein Ort der Aussichtslosigkeit, der viele Schicksale in sich birgt und der „darauf berechnet“ ist, „die Qualen der einzelnen Menschen noch zu stei­gern“; 2. Individuelles Leid manifestiert sich in der leidvollen Niederlage von Dschem im Kampf mit Bajezid um den Sultansthron; 3. Sein Leid wiederholt sich im zweiten Handlungsverlauf des Romans, in dem das tragische Schicksal Djamils im Mit­telpunkt steht. Auch hier wird ein Konflikt thematisiert: der Konflikt zwischen Djamils impe­rialer Obsession und der Schreckensherrschaft von Karadjos im Gefängnis.
Die tragischen Schicksale von Dschem und Djamil sind zwei Varianten menschlichen Lei­dens unter den Antagonismen dieser Welt, unter der Kollision von Standpunkten, gefangen in einem verdammten Hof. Der Verdammte Hof repräsentiert die engen Grenzen menschlicher Existenz, aus denen er einen Ausweg sucht und ihn nicht findet. In diesem Sinne handelt es sich hier nicht nur um eine Erzählung über Geschehenes, sondern zugleich eine Erzählung über das Leiden, das sich unter gleichen oder ähnlichen Gegebenheiten zu allen Zeiten ereignen kann.

Autor/innen-Biografie

Gabriella Schubert, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Wissenschaftlicher Werdegang

  • 1971-77 Studium der Slawistik und Balkanologie, FU Berlin; 1977 M.A.;
  • 1977-82 wissenschaftliche Assistentin, Abteilung Balkanologie des Osteuropa-Instituts der FU Berlin;
  • 1981 Promotion ebd. (Dissertation: Die ungarischen Lehnwörter im Serbokroatischen unter besonderer Berücksichtigung der Rückentlehnun­gen. Erschienen als Band 7 der „Balkanologischen Veröffentlichungen“, Berlin 1982);
  • 1982 Dissertations-Preis der Südosteuropagesellschaft;
  • 1991 Habilitation ebd. (Habilitationsschrift: Kleidung als Zeichen. Kopfbedeckungen im Donau-Balkan-Raum, erschienen als Band 20 der „Balkanologischen Veröf­fentlichungen“, Berlin 1993);
  • venia legendi und Lehrbefugnis für das Fach Balkanologie;
  • 1986-95 Akademische Rätin an der Abteilung Balkanologie,
  • ab 1993 kommissarische Leitung der Abteilung;
  • 1992 Gastprofessur an der Fakultät für Volkskunde der Eötvös-Universität Budapest;
  • Juli 1995 Ruf an die FSU Jena auf die Professur für Südslawistik;
  • neben Südslawistik Aufbau und seit WS 1997/98 Durchführung des interdis­zipli­nären Studiengangs „Südosteuropastudien“ sowie seit Oktober 2006 des von der DFG geförderten, insgesamt auf 9 Jahre konzipierten Graduiertenkol­legs „Kultu­relle Orientierungen und gesellschaftliche Ordnungsstrukturen in Südosteuropa“ an der FSU Jena.
  • Seit 2009 im Ruhestand, jedoch weitere Mitarbeit am obengenannten Graduiertenkolleg.
  • Über 200 Forschungsbeiträge zur Balkanologie, Südslawistik, Hungarologie und Kulturwissenschaft.

 

Mitgliedschaften, Auszeichnungen:

  • Auswärtiges Mitglied der Serbischen Akademie der Wissenschaften Belgrad; Auswärtiges Mitglied der Ungarischen Aka­demie der Wissenschaften Budapest;
  • Trägerin der Kon­stantin-Jireček-Medaille der Belgrader Universität;
  • Mitglied des Präsidiums der Südosteuropa-Gesellschaft;
  • Schriftführende Herausgeberin der „Zeitschrift für Balkanologie“ (Harrassowitz Verlag, Wies­baden);
  • Herausgeberin der Schriftenreihe Forschungen zu Südosteuropa. Sprache . Kultur . Lite­ratur. Harrassowitz Verlag Wiesbaden;
  • Mitherausgeberin der Publikationsreihe „Balkanologie – Sprachen und Kulturen“ (Wien)

 

Forschungsschwerpunkte:

  • Ethnologie und Folkloristik der Ethnien Südosteuropas;
  • Kultursemiotik; Identität und Abgrenzung im Donau-Balkan-Raum;
  • Das Eigene und das Fremde im Spiegel der Literatur;
  • Südslawische Erzähler der Gegenwart;
  • interethnische Kommunikation in Südosteuropa;
  • Kontaktlinguistik;
  • Sprache und Identität;
  • Deutsch-südslawische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen;
  • Hungarologie;
  • Kulturgeschichte der Ungarn

Veröffentlicht

2020-07-14

Zitationsvorschlag

Schubert, G. (2020). Ivo Andrićs Der verdammte Hof – Enzyklopädie existenziellen Leidens. Zeitschrift für Balkanologie, 55(2). Abgerufen von https://zeitschrift-fuer-balkanologie.de/index.php/zfb/article/view/575

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