Was ist ein Ungar? Selbstbilder und Selbsteinschätzungen
Abstract
Behandelt wird in diesem Beitrag die im Laufe der Geschichte beständig zwischen Ost und West hin und her pendelnde kulturelle Orientierung der Ungarn. Dabei gilt auch für sie wie für andere Ethnien in Ost- und Südosteuropa das Paradigma: Westen = Modernismus und Osten = Rückständigkeit sowie Beharren am Althergebrachten; darüber hinaus assoziieren sie jedoch den Osten mit ihrer östlich-nomadischen Herkunft und ihrer sprachlichen Sonderstellung. Hin und her geworfen zwischen zwei gegenüberliegenden Konzepten der kulturellen Zugehörigkeit, beschäftigte die ungarischen Öffentlichkeit immer wieder die Frage: „Wer sind wir?“, „Was macht einen Ungarn aus?“ Wiederholt wurden diese Fragen im Laufe des 20. Jh.s und erneut zu Beginn des 21. Jh.s. gestellt.Am Ende der wechselvollen Jahrhunderte, die die Ungarn seit der Etablierung der osmanischen Herrschaft in ihrem Lande (1526) erlebten, bescherte ihnen auch das 20. Jahrhundert Brüche, Verluste und Traumata: der Erste Weltkrieg; Trianon; der Zweite Weltkrieg; der Kommunismus; 1956; der Systemwechsel 1989 sind die wichtigsten Ereignisse, die dazu beitrugen. Die Ungewissheit über den weiteren Weg brachte ihre Suche nach Selbstpositionierung und Selbstpräsentation wiederholt in den Vordergrund. Diese war natürlich niemals unabhängig von politischen Entwicklungen und der geopolitischen Positionierung Ungarns in Europa, doch sind in diesem Beitrag nicht diese das Thema unserer Betrachtungen; vielmehr geht es um die kulturelle Identität, um die kulturelle Selbstvergewisserung, die in Zeiten des Umbruchs und des Wandels zur Seinsfrage wurde und mit Verlustängsten verbunden war.
Der Beitrag widmet sich zunächst ausgewählten rezenten und gegenwärtigen Veröffentlichungen, in denen von ungarischen Intellektuellen der Versuch unternommen wird, ein ungarisches Selbstbild herauszuarbeiten: 1939 in dem Sammelband Mi a magyar? [Was ist der Ungar?]; 1986 in der zweibändigen Veröffentlichung Helyünk Európában. Nézetek és koncepciók a 20. századi Magyarországon [Unser Platz in Europa. Ansichten und Konzeptionen im Ungarn des 20. Jh.s] und 2005 in einem erneut unter dem Titel Mi a magyar? [Was ist der Ungar?] erschienenen Sammelband.
Betrachtet wird auch das „ungarische Gesicht“ in einer Veröffentlichung des Direktors des Historischen Habsburg-Instituts, András Gerő, die 2010 erschien. Gerős „ungarisches Gesicht“ zeigt im Vergleich zu anderen Selbstbildern sehr konkrete Züge, die mehr auf typische Erscheinungen und Gegenstände der Alltagskultur, als der mentalen – und Wissenskultur der Ungarn ausgerichtet sind. Dennoch, die Suche nach Identität tritt auch in seinen Ausführungen unübersehbar in Erscheinung.
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