Die Last des Anfangs – das Bauopfer in der Interpretation von Ivo Andrić

Autor/innen

  • Gabriella Schubert

Abstract

Dem Anfang kommt eine außerordentliche Bedeutung zu, denn er bestimmt bzw. beeinflusst den Fortgang allen Denkens und Tuns, im positiven wie im negativen Sinne. Er kann Aufbruch, aber auch Stagnation oder Niedergang nach sich ziehen. An den Anfang knüpfen sich große Hoffnungen: ein guter Anfang verspricht eine gute Fortsetzung, und es ist nicht die Gewissheit der Endlichkeit, die den Menschen am Anfang seines Tuns antreibt; vielmehr steht dessen erfolgreicher Abschluss in seinem Blickfeld. Daher wird er alles unternehmen, um den Anfang so optimal wie möglich zu gestalten und Gefahren von ihm zu wenden. Das gilt für Anfänge aller Art und in allen Bereichen des Lebens.
In der materiellen Kultur verbindet sich mit dieser Vorstellung unter anderem die Tätigkeit des Bauens. Insbesondere gilt dies beim Bau von Kirchen, Klöstern, Brücken, Festungen, Schlössern oder anderen wichtigen Bauwerken. In alter Zeit galt es, den jenseitigen Mächten bei Beginn einer Bautätigkeit Opfer darzubringen, um Schäden abzuwenden, die von ihnen zu erwarten wären.
In diesem Beitrag werden die damit verbundenen mythischen Vorstellungen und deren folkloristischer Ausdruck in der Bauopferballade erläutert, um dann näher auf deren Literarisierung in den Werken von Ivo Andrić einzugehen. Andrić thematisiert die „Last des Anfangs“ in Verbindung mit dem Brückenbau vor allem in zwei Werken: in dem Roman „Die Brücke über die Drina“ (1945), für den er 1961 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, und in der Erzählung „Die Brücke über die Žepa“ (1925). Die Brücke wird bei Andrić zum vollkommensten Ausdruck menschlichen Tuns und Strebens nach Beständigkeit, das aufgrund von Gefahren, Hindernissen und Rückschlägen mit großen Opfern verbunden ist. Übermenschliches ist erforderlich, um das Ziel, die Fertigstellung der Brücke, zu erreichen. Beständigkeit ist der Brücke bzw. dem Werk des Menschen jedoch nur bedingt vergönnt: In dem Roman „Die Brücke über die Drina“ wird die Brücke zerstört, während sie in der Erzählung „Die Brücke über die Žepa“ unter dem Gebot des Schweigens als Überwindung menschlicher Selbstbezogenheit und zeitlicher Relativität bestehen bleiben kann.

Autor/innen-Biografie

Gabriella Schubert

Wissenschaftlicher Werdegang

  • 1971-77 Studium der Slawistik und Balkanologie, FU Berlin; 1977 M.A.;
  • 1977-82 wissenschaftliche Assistentin, Abteilung Balkanologie des Osteuropa-Instituts der FU Berlin;
  • 1981 Promotion ebd. (Dissertation: Die ungarischen Lehnwörter im Serbokroatischen unter besonderer Berücksichtigung der Rückentlehnun­gen. Erschienen als Band 7 der „Balkanologischen Veröffentlichungen“, Berlin 1982);
  • 1982 Dissertations-Preis der Südosteuropagesellschaft;
  • 1991 Habilitation ebd. (Habilitationsschrift: Kleidung als Zeichen. Kopfbedeckungen im Donau-Balkan-Raum, erschienen als Band 20 der „Balkanologischen Veröf­fentlichungen“, Berlin 1993);
  • venia legendi und Lehrbefugnis für das Fach Balkanologie;
  • 1986-95 Akademische Rätin an der Abteilung Balkanologie,
  • ab 1993 kommissarische Leitung der Abteilung;
  • 1992 Gastprofessur an der Fakultät für Volkskunde der Eötvös-Universität Budapest;
  • Juli 1995 Ruf an die FSU Jena auf die Professur für Südslawistik;
  • neben Südslawistik Aufbau und seit WS 1997/98 Durchführung des interdis­zipli­nären Studiengangs „Südosteuropastudien“ sowie seit Oktober 2006 des von der DFG geförderten, insgesamt auf 9 Jahre konzipierten Graduiertenkol­legs „Kultu­relle Orientierungen und gesellschaftliche Ordnungsstrukturen in Südosteuropa“ an der FSU Jena.
  • Seit 2009 im Ruhestand, jedoch weitere Mitarbeit am obengenannten Graduiertenkolleg.
  • Über 200 Forschungsbeiträge zur Balkanologie, Südslawistik, Hungarologie und Kulturwissenschaft.

 

Mitgliedschaften, Auszeichnungen:

  • Auswärtiges Mitglied der Serbischen Akademie der Wissenschaften Belgrad; Auswärtiges Mitglied der Ungarischen Aka­demie der Wissenschaften Budapest;
  • Trägerin der Kon­stantin-Jireček-Medaille der Belgrader Universität;
  • Mitglied des Präsidiums der Südosteuropa-Gesellschaft;
  • Schriftführende Herausgeberin der „Zeitschrift für Balkanologie“ (Harrassowitz Verlag, Wies­baden);
  • Herausgeberin der Schriftenreihe Forschungen zu Südosteuropa. Sprache . Kultur . Lite­ratur. Harrassowitz Verlag Wiesbaden;
  • Mitherausgeberin der Publikationsreihe „Balkanologie – Sprachen und Kulturen“ (Wien)

 

Forschungsschwerpunkte:

  • Ethnologie und Folkloristik der Ethnien Südosteuropas;
  • Kultursemiotik; Identität und Abgrenzung im Donau-Balkan-Raum;
  • Das Eigene und das Fremde im Spiegel der Literatur;
  • Südslawische Erzähler der Gegenwart;
  • interethnische Kommunikation in Südosteuropa;
  • Kontaktlinguistik;
  • Sprache und Identität;
  • Deutsch-südslawische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen;
  • Hungarologie;
  • Kulturgeschichte der Ungarn

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Veröffentlicht

2015-02-12

Zitationsvorschlag

Schubert, G. (2015). Die Last des Anfangs – das Bauopfer in der Interpretation von Ivo Andrić. Zeitschrift für Balkanologie, 51(1). Abgerufen von https://zeitschrift-fuer-balkanologie.de/index.php/zfb/article/view/425

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