Die Last des Anfangs – das Bauopfer in der Interpretation von Ivo Andrić
Abstract
Dem Anfang kommt eine außerordentliche Bedeutung zu, denn er bestimmt bzw. beeinflusst den Fortgang allen Denkens und Tuns, im positiven wie im negativen Sinne. Er kann Aufbruch, aber auch Stagnation oder Niedergang nach sich ziehen. An den Anfang knüpfen sich große Hoffnungen: ein guter Anfang verspricht eine gute Fortsetzung, und es ist nicht die Gewissheit der Endlichkeit, die den Menschen am Anfang seines Tuns antreibt; vielmehr steht dessen erfolgreicher Abschluss in seinem Blickfeld. Daher wird er alles unternehmen, um den Anfang so optimal wie möglich zu gestalten und Gefahren von ihm zu wenden. Das gilt für Anfänge aller Art und in allen Bereichen des Lebens.In der materiellen Kultur verbindet sich mit dieser Vorstellung unter anderem die Tätigkeit des Bauens. Insbesondere gilt dies beim Bau von Kirchen, Klöstern, Brücken, Festungen, Schlössern oder anderen wichtigen Bauwerken. In alter Zeit galt es, den jenseitigen Mächten bei Beginn einer Bautätigkeit Opfer darzubringen, um Schäden abzuwenden, die von ihnen zu erwarten wären.
In diesem Beitrag werden die damit verbundenen mythischen Vorstellungen und deren folkloristischer Ausdruck in der Bauopferballade erläutert, um dann näher auf deren Literarisierung in den Werken von Ivo Andrić einzugehen. Andrić thematisiert die „Last des Anfangs“ in Verbindung mit dem Brückenbau vor allem in zwei Werken: in dem Roman „Die Brücke über die Drina“ (1945), für den er 1961 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, und in der Erzählung „Die Brücke über die Žepa“ (1925). Die Brücke wird bei Andrić zum vollkommensten Ausdruck menschlichen Tuns und Strebens nach Beständigkeit, das aufgrund von Gefahren, Hindernissen und Rückschlägen mit großen Opfern verbunden ist. Übermenschliches ist erforderlich, um das Ziel, die Fertigstellung der Brücke, zu erreichen. Beständigkeit ist der Brücke bzw. dem Werk des Menschen jedoch nur bedingt vergönnt: In dem Roman „Die Brücke über die Drina“ wird die Brücke zerstört, während sie in der Erzählung „Die Brücke über die Žepa“ unter dem Gebot des Schweigens als Überwindung menschlicher Selbstbezogenheit und zeitlicher Relativität bestehen bleiben kann.
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